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Der franko-kanadische Regisseur Denis Villeneuve ist einer der aufregendsten Filmemacher der Gegenwart. In unserem neuesten Dialog blicken wir ein wenig zurück, auf seine Werkliste, die so unterschiedliche wie interessante Arbeiten umfasst wie „Polytechnique“, „Next Floor“ oder „Enemy“. Zudem bietet die Personalie Villeneuve auch einen willkommenen Anlass, um sich ein wenig mit der Filmszene Kanadas auseinander zu setzen.

YP: Villeneuves Frühwerk habe ich bewusst ausgespart. Dafür ist noch Zeit. Außerdem wollte ich die Begegnung mit dem Regisseur nicht ausreizen.

PD: „Incendies“ aus dem Jahr 2010 war der erste Film von Denis Villeneuve, der mir ganz bewusst auffiel. Was wohl vor allem an der Oscar-Nominierung lag. Dass er aber bereits seit 1994 im Geschäft ist, hat mich dann sehr überrascht.

Das zeigt, wie wenig man aus manchen Ländern zu sehen bekommt.

YP: Weil du es erwähnst, ich habe mir kanadische Regisseure und Regisseurinnen in Vorbereitung auf unseren Dialog angesehen. Da gibt es den großen David Cronenberg. Und dann sind mir noch Sarah Polley und ihr Großartiges „Stories We Tell“ aufgefallen. Dann natürlich und vor allem jetzt nach dem Jurypreis in Cannes Xavier Dolan, dessen Filme ich ungefähr zeitgleich mit denen von Villeneuve entdeckt hatte. Das muss 2011 gewesen sein. Erst heuer richtig wahrgenommen habe ich Jean-Marc Vallée , der “Dallas Buyers Club“ gedreht hat. Dann fällt mir noch Atom Egoyan ein.

PD: Guy Maddin wäre noch ein wichtiger kanadischer Filmemacher. Atom Egoyan hat seine Spur in den letzten Jahren ein wenig verloren, aber ja, er gehört zu den bekannteren Filmemachern Kanadas. David Cronenberg ist DER kanadische Filmemacher, den wohl jeder kennt. An Xavier Dolan musste ich auch denken, aber gerade bei ihm ist es schon sehr speziell, wie bekannt er ist. Seit seinem wundervollen Debüt „J’ai tué ma mère“ war jeder einzelne Film ein Ereignis und zumeist auf einem der großen Festivals zu sehen. Dabei ist der junge Mann gerade erst 25. Ein richtiges Wunderkind.

Villeneuve hingegen ist schon Mitte 40 und hat jetzt „erst“ seinen internationalen Durchbruch. All seine Filme waren auch zuvor nationale Hits oder Festival-Lieblinge, aber so wirklich ein wichtiger Name wurde er erst mit „Incendies“ und dann natürlich mit dem sehr straff inszeniertem „Prisoners“.

YP: Um bei Villeneuve zu bleiben. „Polytechnique“ ist aus 2009. „Incendies“ aus 2010. Und dann folgen „Prisoners“ und „Enemy“, beide aus 2013. Vier Filme in nur fünf Jahren ist eine beachtliche Leistung. Vor allem, wenn man sich die Qualität der Filme vor Augen führt. Ich halte „Polytechnique“ und „Enemy“ für kleine Meisterwerke und „Incendies“ und „Prisoners“ auf jeden Fall für Thriller mit hohem Anspruch.

PD: Umso überraschter war ich, als ich in diesem Interview mit ihm las, dass er nach „Polytechnique“ eine Pause einlegen wollte. Dann kommt er nur ein Jahr später mit einem so wuchtigen Film wie „Incendies“ zurück. Da überhaupt von einer Pause zu sprechen, finde ich schon gewagt. Womöglich war er aber auch nur geschlaucht von der Nacherzählung der wahren Ereignisse, die er in „Polytechnique“ darstellt. Der Film ist ja doch sehr kühl.

YP: Ich habe „Incendies“ auch 2011 gesehen und der Film war damals auch einer meiner Lieblingsfilme des Jahres. Ich weiß gar nicht, warum ich nicht näher auf den Regisseur eingegangen bin. Etwas, was ich bei Dolan durchaus gemacht hatte.

PD: „Incendies“ hat bei mir nicht wirklich viel ausgelöst. Ich bewunderte die clevere Inszenierung, aber die Handlung mit den vielen Twists, hat mir nicht so zugesagt. Dafür ist mir Villeneuve sehr wohl plötzlich ein Begriff gewesen, und das muss sich auch so sehr ins Unterbewusstsein eingebrannt haben, dass ich in Hinblick auf „Prisoners“ nur aufgrund der Tatsache, dass Villeneuve inszeniert, sehr interessiert war.

Dolan war auf jeden Fall aufgrund seines jungen Alters auch als Person interessant. Schließlich will man ja auch wissen, was hinter einem 19-jährigen Filmemacher steckt, der so ein Debüt hinlegt.

YP: Mir gefiel „Incendies“, ich empfand ihn als wuchtig. Beim Schauen erinnerte er mich an Stücke aus der griechischen Tragödie, richtig epochal. Beim genauen Hinsehen weiß man, dass der Film auf einem Theaterstück des Exil-Libanesen Wajdi Mouawad basiert.

PD: Interessant. Ich kann mir das gar nicht auf einer Theaterbühne vorstellen, zumindest nicht in der Form, in der es Villeneuve auf die Leinwand brachte. Es ist voller gewaltiger Schläge in die Magengrube, auch visuell.

Sein visueller Stil ist auch immer wieder beeindruckend anzusehen. Egal ob das strenge Schwarzweiß in „Polytechnique“, was auch gut zur Geschichte passt, oder die ausufernden und doch kontrolliert eingesetzten Farbpaletten in „Next Floor“ oder „Enemy“.

YP: Nicht zu vergessen diese ausgewaschenen Grautöne in „Prisoners“. Die Farben, in denen er seine Bilder taucht, bleiben richtig hängen. Für mich waren – die Lang- und Kurzfilme – allesamt bildgewaltige Ereignisse.

PD: Darin sehe ich seine größte Stärke. Es bleiben imposante Bilder hängen, aber auf der Handlungsebene macht er mir oft zu viele Drehungen und Wendungen. Bei „Prisoners“ wieder hat er einem sehr standardisiertem Drehbuch zu höheren Weihen verholfen. Denn so wirklich intelligent empfand ich das Gezeigte nicht.

Mir gefällt auch, dass Jake Gyllenhaal und er sich offenbar zu Höchstleistungen anspornen. Gyllenhaals Leistung in „Prisoners“ hat mich beeindruckt und „Enemy“ ist ohnehin ein kleines Gesamtkunstwerk, das exemplarisch für Villeneuves Art des Filmemachens steht.

YP: Ich kenne Villeneuves Frühwerk nicht, aber nehmen wir die Filme seit „Polytechnique“. Da scheint mir, als schicke er all seine Protagonisten auf ausgedehnte Odysseen. Richtige Irrwege. Das ist zumindest ein Versuch, die vielen Twists zu erklären. So fühlt es sich bei jedem Film an. Vor allem eben in „Enemy“, der mich zum Beispiel etwas an „Naked Lunch“ von David Cronenberg erinnerte.

PD: Bezüglich „Enemy“ musste ich merkwürdigerweise nicht an „Naked Lunch“ denken. Eher an Richard Ayoades „The Double“ und auch an den einen oder anderen Film von David Lynch. Ansonsten stimme ich zu, er führt in seinen Filmen die Charaktere auf ihre eigenen Wege und führt sie zum Schluss, mit neu erworbenen Kenntnissen, wieder zusammen. Erst dann erschließt sich das gesamte Bild.
Dabei fällt „Polytechnique“ ein wenig aus dem Rahmen, denn der handelt ja nicht nur von einer realen Tragödie, sondern fühlt sich auch formal strenger an. Ein wenig mehr wie „Elephant“ von Gus van Sant.

YP: Für einen Vergleich mit Lynch ist mir der Plot zu linear. Aber „Enemy“ ist der am wenig kommerziellste seiner Filme. Andererseits, er bietet nicht eine Auflösung, sondern einige. Das hebt ihn auch aus seinem Werk heraus.

Von den Kurzfilmen kenne ich „Next Floor“ und „120 Seconds to Get Elected“.

PD: Bei seinen Kurzfilmen scheint Villeneuve ja sogar eine Spur experimenteller zu agieren. „Next Floor“ ist visuell großartig ausgearbeitet, während „120 Seconds to Get Elected“ mit einfachsten Mitteln operiert. Das scheint eine Spielwiese für ihn zu sein.

YP: Ich würde sagen, diese sind auch gesellschaftskritischer. Ist „Next Floor“ eine Kritik am Massenkonsum und an der Maßlosigkeit, schient „120 Seconds“ die verbalen Verführungskünste moderner Demagogen aufzuzeigen.

PD:  Genau so habe ich es auch gesehen. In „120 Seconds“ rutscht der seine Reden schwingenden Politiker auch innerhalb weniger Sekunden vom Populistischen ins Faschistische. Es lag aber wohl auch an der Länge, dass dieser Kurzfilm weniger Eindruck hinterließ, denn „Next Floor“.

YP: „Next Floor“ legt auch eine gewisse Komik – die in seinen Langfilmen nirgends anzutreffen ist – an den Tag. Mich erinnerte der Film stark an „La Grande Bouffe“.